Im Rahmen meines Buchprojekts stelle ich hier literarische Fundstücke vor, die mir während der Recherche über den Weg laufen. Es können sowohl historische als auch aktuelle Werke sein – auf die Anknüpfungspunkte für den aktuellen Digitaldiskurs gehe ich ein.


Den zweiten Eintrag widme ich dem 2021 im Merve-Verlag erschienen Text „Glitch Feminismus“ von Legacy Russell, ein kritisch-konstruktives Buch, das sich den gängigen Narrativen der Digitalisierung verweigert. Schon beim Betrachten des Buches und ohne überhaupt eine Seite gelesen zu haben, gibt das Cover eine Vorahnung auf den Inhalt. Die Bildgestaltung irritiert durch die Unschärfe des Titels, so als ob man zu tief ins Glas geschaut hat. Diese Irritation ist programmatisch und wird durch weitere stilistische Elemente verstärkt, etwa durch den Umgang mit Gender-Kontentionen, die auch eine Verweigerung, in diesem Fall von gendersensibler Sprache, ist. So setzt Legacy Russel auf die Technik des Entgendern und strebt stattdessen geschlechtsneutrale Formulierungen an. So soll ein größerer Handlungsraum entstehen, der über die gängigen Grenzen von Identität (die immer eine Art Schublade ist, in die wir gesteckt werden bzw. uns selbst einordnen) hinausgeht.

Aber was meint eigentlich Glitch? In der digitalen Kultur wird darunter „(…) ein Fehler, ein Fail, ein Nicht-Funktionieren“ (S. 15) verstanden, aber auch eine „(…) Maschinenangst, ein Anzeichen dafür, dass irgendwo etwas schiefgelaufen ist“ (ebenda). Aus dieser Perspektive wäre es nur logisch, Maßnahmen zu ergreifen um den Fehler zu beheben und die Maschine zu reparieren (wie etwa durch den Korrekturapparat in der Dystopie „Die Maschine steht still“, die ich hier vorgestellt habe). Für Russell ist der Glitch jedoch eine Argumentationsfigur zur kritischen Analyse des Digitalisierungsdiskurses: „Jede Technologie spiegelt die sie hervorbringende Gesellschaft mit ihren Machtstrukturen und Vorurteilen. Das zieht sich bis auf die Ebene des Algorithmus durch“ (S. 28).

Das Drama um die Entlassung und die bald danach erfolgte Wiedereinstellung von Sam Altman bei OpenAI zeigt uns deutlich, dass das Kapital immer gewinnt: „Es ist der Triumph eines Geschäftsmannes aus der Bay Area über die Charta von OpenAI, die vorgibt, die Verbesserung der Menschheit über Profit und Persönlichkeit zu stellen“.

Neben der Kritik der Machtstrukturen will der Glitch Feminismus Dichotomien überwinden, wie etwas die zwischen dem Realen und dem Digitalen. So wie Boris Becker in der berühmten AOL-Werbung von 1999 freudig ausrief „Ich bin drin [im Internet]“, so denken viele Menschen heute immer noch: Das Digitale unterscheidet sich vom Analogen, d.h. der realen Welt.

Darum setzt die Autorin auf AFK (Away from Keyboard) statt auf IRL (in real life), um deutlich zu machen, dass die digitale Kultur unsere Realität, d.h. „(…) die Art, wie wir alles, was AFK passiert, lesen, wahrnehmen und aufnehmen für immer verändert“ (S. 47).

Übertragen auf die Bildung: Der Einsatz von digitalen Werkzeugen in der Lehre beschränkt sich nicht auf eine Form von „Online-Studium“, sondern hat Auswirkungen auf die Hochschule insgesamt. Das merken wir in der Regel nicht, sondern nur dann wenn es einen Glitch gibt, d.h. etwas nicht funktioniert, so wie bei einem Hackangriff.

Gleichwohl hat der digitale Raum eine immense Bedeutung, etwa für queere Menschen oder PoC und steht der populären These entgegen, wonach wir durch das Internet zwar virtuell immer verbundener sind, dies aber allein (Alone Together). Russell knüpft hier an frühere Internet-Utopien an, die dem digitalen Raum eine besondere emanzipatorische Kraft zuschreiben.

Gerade die Perspektive auf das Post-Digitale macht den Glitch Feminismus spannend und eröffnet eine Theoriewelt, die in den bisherigen Debatten zur Digitalisierung der Gesellschaft fehlt.

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