Als Open Educational Resources (OER) im Sommer 2002 während des Forum on the Impact of Open Courseware for Higher Education in Developing Countries als Begriff geboren wurden, befanden wir uns in einer Zeit, die sich stark von der heuten unterscheidet. Obwohl Google damals bereits seit fünf Jahren existierte, fehlten bekannte Online-Dienste wie Facebook, Instagram oder Twitter, die heute unser tägliches Leben prägen. Es war eine Zeit, in der man noch sehr deutlich die Schallwellen der Declaration of the Independence of Cyberspace spürte. Die Erzählungen kreisten um die befreiende Kraft des Internet und der Netzwerktechnologien – Befreiung von Aufsicht und Kontrolle von Staaten durch die Inanspruchnahme eines neuen, unregulierbaren digitalen Raums. Das Virtuelle und das Digitale haben eine ganz besondere Faszination – there is something about the digital – und das obwohl es sich doch so leicht definieren lässt.

Die Hacker-Ethik, die das Credo ‚Informationen sollten frei sein‘ vertrat, bildete eine bedeutende kulturelle Wurzel der emanzipatorischen Bewegung des frühen Internets. Der Internet-Optimist Kevin Kelly übertrug diese abstrakte Idee auf die materielle Welt und forderte eine „liquid library“, die das Weltwissen aus Büchern, Filmen oder Kunstwerken umfassen und allen zur Verfügung stellt. Die damaligen Praktiken von Google mit dem Scannen von Büchern und die aktuellen Praktiken von Firmen wie Open AI zum Aufsaugen des gesamten schriftlichen Webs lassen sich aus einer libertären Perspektive vielleicht rechtfertigen und stehen für eine dem Silicon Valley recht typische Haltung. Die Geschichte lässt sich aber auch aus einer rechtlich unbedenklichen Perspektive erzählen, als Open-Educaton-Utopie (ich komme darauf später zurück).

Die digitalen Technologien und Protokolle waren nicht nur die Grundlage für Software-Programme, Plattformen und webbasierte Anwendungen, sondern auch die Haupttreiber für soziale, politische, kulturelle und wirtschaftliche Veränderungen. Tatsächlich waren die damit verbundenen Werte des Internet als Netz der Netze dann auch Grundlage für enorme Zentralisierungen und Machtkonzentrationen von großen Konzernen. Big Tech hat es geschafft, vertikale Monopole, unterstützt durch entsprechende politische Regulierung, aufzubauen und eine nie dagewesene Dominanz zu erreichen [1].

Der italienische Kultursoziologe Paulo Bory beschreibt den diskursiven Wandel in seinem Buch The Internet Myth: From the Internet Imaginary to Network Ideologies [2] so:

According to this narrative, especially starting from the mid-1990s, a new horizontal, coordinated, and interdependent organization of knowledge, work and social life would be realized thanks to the distributed model of communication. However, two decades later, what was once forecast to be the golden age of networks has instead turned out to be an age in which networks have become a gold mine, especially for a few actors who have taken advantage of the collective enthusiasm for networked systems. (p. 1)

Der Namenswechsel von Facebook zu Meta im Jahr 2021 und die zeitgleich öffentlich gestartete Unterstützung der schon älteren Idee des Metaverse kann als Versuch gelesen werden, an den Cyberliberatismus aus den 1990er-Jahren anzuknüpfen, dessen Kernmerkmal die uneingeschränkte Akzeptanz des technologischen Determinismus ist“ [3]. Die Entwicklungen der neuen Technologien bestimmen somit als einzige Quelle die Notwendigkeit für gesellschaftliche Veränderungen. Bekannt wurde diese Art des Denkens auch als Kalifornische Ideologie: eine bizarre Vermischung der Hippie-Gegenkultur und des neoliberalen Kapitalismus.

Es gibt eine deutliche Kontinuität dieses libertären Denkens: Immer wenn eine neue technologische Innovation auf der Bühne der Öffentlichkeit erscheint, wird sie in die immer gleichen diskursiven Muster verpackt. Dazu gehört, wie zum Beispiel Knox [4] im Kontext des Interesses von Tech-Firmen wie Facebook Meta am Metaverse-Konzept aufzeigt,:

Presumably, the form of statelessness envisaged by today’s ‘big tech’ companies and their investors is characterised by a desire to forestall regulation related to data privacy, rather than deriving from any real interest in pursuing the ideals of philosophical liberalism. (p. 210f.)

Auch wenn fortwährend von der Tech-Gemeinde (Unternehmen, Medien, …) deutlich gemacht wird, dass es sich um jeweils neuartige Entwicklungen handelt, die sich darum auch gut vermarkten lassen, sind die Technologien Teil einer längeren historischen Linie. Diese Geschichtsvergessenheit ist, zu einem geringeren Teil, auch im Open-Education-Diskurs anzutreffen, in Bezug auf die in den 1960-er und 1970er-Jahren unternommenen Versuche, Bildungsstrukturen und -institutionen zu öffnen. Aus den „alten“ Ideen und Projekten können wir lernen und auf die heutige Zeit und die aktuellen Herausforderungen übertragen.

Die OER/Open-Education-Utopie

Während die Werte, die sich in der Frühphase des Internet herausbildeten und die um Freiheit, Partizipation und Egalität kreisten, für die Open-Education-Bewegung weiterhin eine Utopie darstellen, hat sich der Rest des Internet in das Gegenteil verkehrt.

Es entstanden kommerzielle Quasi-Monopole, die an koloniale Strukturen erinnern und historische Praktiken der Ausbeutung – wie jene der Natur und menschlicher Arbeitskraft – durch digitale Technologien und Datenverwertung neu definieren. Nick Couldry und Ulises A. Mejias führten hierfür den Begriff „Datenkolonialisierung“ ein [5].

Eine andere radikale Differenz betrifft den Umgang mit Daten aus Bildung, Kunst und Kultur. Die Open-Education-Bewegung und verwandte Initiativen in der Forschung betonen den respektvollen und wertschätzenden Umgang mit von Menschen erstellten Inhalten. Der freie Zugang zu Wissen wird als Möglichkeit zur Stärkung der Allgemeinheit gesehen und stellt einen Kontrast zur Vereinnahmung digitaler Daten durch große Konzerne dar. Welche Nutzungsrechte ich anderen gebe, ob ich z.B. auf meine Namensnennung verzichte, liegt ganz bei mir. Es besteht ein weitgehender Konsens, dass Lizenzierungen, die bestimmte Nutzungen ausschließen, kein „freies Werk“ darstellen.

Zudem wurde über viele Jahre Urheberrechtsverletzungen mit immer ausgeklügelteren Maßnahmen verfolgt und streng bestraft, begleitet von Kampagnen, die drastische Vergleiche wählten (z.B. Piraterie für das Kopieren von urheberrechtlich geschützten Werken und damit die Gleichsetzung mit einem räuberischen Überfall).

YouTube-Clip „You wouldn’t steal a car“

Mit dem Aufkommen großer Sprachmodelle stieg der Bedarf an hochwertigen Daten rasant an. Da die frei verfügbaren Inhalte für das Training solcher Modelle bei weitem nicht ausreichten, griffen Unternehmen wie OpenAI auf Internetdaten zurück – häufig unter Missachtung des Urheberrechts. Die New York Times verklagte Ende 2023 als erste große Medienorganisation Open AI und Microsoft wegen Urheberrechtsverletzungen. Wenn Chatbots massenhaft mit Artikeln gefüttert werden, entsteht hier eine Konkurrenz für die New York Times als Quelle zuverlässiger Informationen.

Um diese fragwürdigen Geschäftspraktiken der Tech-Unternehmen zu rechtfertigen, wird auf ein bekanntes Narrativ zurückgegriffen: Der Vormarsch von KI ist eine unausweichliche Entwicklung, die der Menschheit Glück und Wohlstand bringt und darum ist es jetzt wichtig, dass es keine Hürden im Weg des quasi natürlichen technologischen Fortschritts gibt. Es ist darum Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass Open AI und co nicht durch das lästige Urheberrecht behindert werden. Im Vereinigten Königreich ist das genau die Argumentation, die Google an die Adresse der neuen Labour-Regierung vorbringt.

Gerade in unseren aktuellen Zeit, in der technologische Entwicklungen neue Abhängigkeiten schaffen und Daten zunehmend zur Ware werden, ist das Ideal einer freien Wissensgesellschaft wichtiger denn je. Open Educational Resources erinnern uns daran, dass Wissen als gemeinschaftliches Gut behandelt werden sollte – nicht als exklusives Eigentum. Diese Vision der Open-Education-Bewegung bleibt ein wichtiger Gegenentwurf und zugleich ein Aufruf, den freien Zugang zu Wissen weiterhin zu verteidigen und neue Wege für eine gerechte, nachhaltige Wissensgesellschaft zu schaffen.


[1] C. Doctorow, The internet con: how to seize the means of computation. London: Verso, 2023.

[2] P. Bory, The Internet Myth: From the Internet Imaginary to Network Ideologies. Westminster: University of Westminster Press, 2020. doi: 10.16997/book48.

[3] L. Winner, „Cyberlibertarian myths and the prospects for community“, SIGCAS Comput. Soc., Bd. 27, Nr. 3, S. 14–19, Sep. 1997, doi: 10.1145/270858.270864.

[4] J. Knox, „The Metaverse, or the Serious Business of Tech Frontiers“, Postdigit Sci Educ, Bd. 4, Nr. 2, S. 207–215, Apr. 2022, doi: 10.1007/s42438-022-00300-9.

[5] N. Couldry und U. A. Mejias, „Data Colonialism: Rethinking Big Data’s Relation to the Contemporary Subject“, Television & New Media, Bd. 20, Nr. 4, S. 336–349, 2019, doi: 10.1177/1527476418796632.

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2 Kommentare

  1. Ein erster Gedanke:
    Ich nehme die genannten frühen Ideale als Ausgangspunkt (1996): Informationen wollen frei sein, offener Zugang für alle, Beteiligungsmöglichkeiten für alle, Weg mit den Gatekeepern etc. Wenn ich deren Erben in der Gegenwart suche, lande ich eher bei den Shadow Libraries als bei OER. Im Artikel zeichnest Du, Markus, ja auch die OER-Idee als eine, die von Respekt vor dem Urheberrecht und dem Individuum gekennzeichnet sei. Kann man dann sagen, dass sowas wie die Shadow Libraries eine „Open Education Utopie“ konsequent vertreten, während die OER-Bewegung quasi den Weg von den Fundies zu den Realos genommen haben? Keine Revolution, keine Utopie, sondern Marsch durch die Institutionen, inkrementelle Veränderungen, Überzeugen durch Argumente …?
    Sind die heutigen OER-Akteure quasi der Winfried Kretschmann der Open Education Bewegung?

  2. Lieber Markus,
    danke für Deinen deutlichen Impuls!
    Ich schlussfolgere, dass „Offenheit“ an sich, vermutlich noch kein ausreichendes Merkmal ist, um fortschrittliche Position zu beschreiben, dazu ist dann eben die Verbindung zu menschenfreundlichen, respektvollen und gerechten Zielen zu schaffen. Das wäre auch meine Antwort zu den Schatten-Bibliotheken: Juristische Normen sind eben auch nicht deckungsgleich mit menschlichen Werten und können auch mal in Konflikt geraten. Die Schlussfolgerung wäre also die Diskussion zu politisieren? Das wird, so glaube ich, nicht gerne gehört, weil es immer auch das Risiko in sich birgt, sich in Konflikte zu begeben. Die Diskussion wird spannend bleiben!

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