Im Rahmen des University Futur Festival 2024 spreche ich am 06.06.2024 auf der Partnerbühne von ORCA.nrw in Bochum über E-Learning.

Nachfolgend mein Manuskript für den Vortrag (die Präsentation ist am Ende des Textes).


1) Biographischer Einstieg

Ich spreche nun zu Ihnen und Euch nicht als Mit-Orginsator der ORCA-Bühne, sondern in meiner Rolle als Bildungswissenschaftler.

Der Titel meines Vortrags irritiert und wirkt aus der Zeit gefallen. Will ich heute ernsthaft über „E-Learning“ sprechen und das ausgerechnet beim größten Festival für die digitale Hochschule mit dem Motto „Tales of Tomorrow“?

Warum ich tatsächlich über E-Learning reden werden, hat zwei Gründe, die direkt mit dem Konferenzthema zu tun haben.

Es geht erstens um eine Geschichte, die vor nicht allzu langer Zeit eine prägende Zukunftserzählung, also eine „Tale of Tomorrow“ war. Heute spielt sie keine große Rolle mehr, denn es kamen wirkmächtigere Geschichten zur Digitalisierung und zur Künstlichen Intelligenz auf.

Ich blicke auf diese Geschichte zurück, jedoch nicht in Form einer Historisierung, sondern um damit ein wissenschaftssoziologisches Konzept einzuführen und anzuwenden. Dieses Konzept hilft uns Visionen besser zu verstehen, etwa wie sie entstanden sind, wie sie sich verbreitet haben und wie sie sich gegen alternative Geschichten durchsetzen konnten. Während meiner beruflichen Laufbahn bin ich immer wieder Visionen in unterschiedlicher Ausprägung begegnet, z.B. vor etwa zehn Jahren als die große MOOC-Welle über den Atlantik zu uns nach Deutschland schwappte und die Hochschulen vor große Herausforderungen stelle.

Es geht also zweitens im Vortrag um meine persönliche Geschichte.

Ich habe im November 2001 meine erste Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Ilmenau angetreten. Damals dachte ich, Ilmenau liegt im Allgäu;). Schon während meines Studiums – Erziehungswissenschaft und Politikwissenschaft – habe ich mich mit der Bedeutung der Medien für das Lehren und Lernen beschäftigt. Ich freute mich also, am Lehrstuhl „Medienkonzeption / Digitale Medien“ zu sein. Auch am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft, zudem der Lehrstuhl gehörte, gab es spannende Projekte und Studienangebote. Zwar gab es damals noch kein Facebook, Instagram oder ChatGPT, was es dafür aber gab, war das Versprechen, mit E-Learning die Lehre zu verbessern.

Ich arbeitete im E-Learning Projekt „medin„, das stand für
„multimediales Fernstudium Medizinische Informatik“. Es ging um den Einsatz einer „Hypermedia-basierten, multimedialen und interaktiven Lernumgebung“. Damit sollte ein leichter Zugang zu Lernmaterialien geschaffen werden und es Studierenden erleichtern, „Zusammenhänge zwischen zunächst getrennten Fachthemen herzustellen“. Ich habe im Projekt mitgearbeitet bei der didaktischen Analyse und Konzeption sowie bei der Evaluation.

Das Projekt medin wurde zusammen mit vielen anderen Vorhaben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert, weil damit die Erwartung verknüpft war, das Internet kann die Hochschullehre besser machen.

Diese Erzählung war also erfolgreich, denn sonst hätten nicht so viele Menschen sehr viel Geld in das Internet investiert, wenn sie nicht erwartet hätten, dass es eine gute Investition ist.

Geboren wurde die Erzählung einige Jahre zuvor. Der 2018 verstorbenen Bürgerrechtler und Songtexter der Rockband Grateful Dead John Perry Barlow veröffentlichte 1996 die Declaration of Independence des Cyberspace. Ein zentrales Gründungsdokument des Internet [1]. Barlow griff auf die gescheiterte Hippie-Bewegung der 1960-er-Jahre zurück und transferierte sie in die saubere, glitzernde und kalte Sphäre des Digitalen. Nationale Regierungen sollten sich weitgehend aus dem Internet heraushalten, damit durch Freiheit Innovation gefördert werden könnte.

Ein Jahr zuvor veröffentlichte der Gründer des MIT Media Lab Nicholas Negroponte das Buch „Being Digital“ [2], das bereits kurz nach Erscheinen ein Bestseller wurde und in 40 Sprachen übersetzt wurde. Negroponte prognostizierte darin einen unaufhaltsamen Wandel von Atomen zu Bits, also von der analogen zur digitalen Welt. Die Bildung war von diesem tiefgreifenden Wandel nicht ausgenommen, wie dieses Zitat belegt: „Schools will change to become more like museums and playgrounds for children to assemble ideas and socialize with other children all over the world“ (S.6).

Etwas später platzte die Dot-Com-Blase und das Silicon Valley musste sich neu erfinden. Die dazu notwendige Erzählung steuerte Tim O’Reilly mit dem Begriff „Web 2.0“ bei [3]. Mit Wikis, Blogs, Podcasts und co. sollten die eingebrochenen Umsätze wieder gesteigert werden und zwar in möglichst allen Bereichen der Gesellschaft wie der Gesundheit oder der Bildung. O’Reilly griff mit seiner Idee des Web 2.0 geschickt zurück auf den tiefsitzenden Wunsch vieler Menschen nach gesellschaftlicher Teilhabe bzw. politischer Veränderung und verknüpfte dies mit dem Versprechen auf „kollektive Intelligenz“, die für das Silicon Valley sehr attraktiv war. Tatsächlich waren die Formen der Beteiligung beschränkt auf ein einfaches Feedback an diejenigen, die einen Internetdienst (z,B. Facebook, Amazon) betreiben.

Gleichwohl entstanden aus der Web 2.0 Bewegung neuartige Anwendungen wie Wikis, Blogs oder Podcast, die auch unter dem Begriff Social Software zusammengefasst wurden. Gerade für technisch weniger versierte Menschen (die deutlich in der Mehrzahl waren gegenüber den sog. Nerds) boten Social Software gute Möglichkeiten zum Selbermachen wie das Betreiben eines Blogs über spezielle Dienste wie WordPress.

Dieses Beteiligungspotenzial sollte auch die Hochschullehre erreichen. So setzen wir im Lehrgebiet Mediendidaktik im damaligen Studiengang „Bildung und Medien: eEducation“ bereits ab 2008 Blogs, Pod-/Vodcasts und Wikis ein. Unsere Studierende sollten nicht nur theoretisch etwas über „Lehren und Lernen in der Wissensgesellschaft“ erfahren sondern auch ganz praktisch „mediengestützte Lehr- und Lernarrangements planen, gestalten und evaluieren“.

Internet-Utopien wie das Cyberspace oder Web 2.0 prägten also das Denken zur damaligen Zeit. Heute haben wir längst neue Visionen. Dafür muss ich nur das Stichwort „KI“ in den Raum werfen und wir alle haben sofort Bilder im Kopf, wie diese Technologien unsere Gesellschaft verändern werden.

Darum zeige ich in meinen Vortrag zunächst auf, wie sich Utopien als „Tales of Tomorrow“ begrifflich einordnen lassen. Ich werde dazu das Konzept „Imaginaries“ einführen und begründen, warum es sehr gut geeignet ist für die Analyse der vergangenen und der zukünftigen Geschichten, die wir uns über Technologie und Bildung erzählen.

Imaginaries helfen uns zu verstehen, warum sich seit ungefähr 100 Jahren die Erzählung, Bildung lässt sich durch Technologie verbessern, d.h. effizienter und effektiver machen, hält. Allerdings halten die Technologien nicht immer die Versprechen ein, die ihnen in den Bildungsutopien zugeschrieben werden.

2) Imaginaries: Linse zur Analyse von Visionen

Gerade in der aktuellen Zeit, die durch einen starken Hype zu den disruptiven Möglichkeiten von KI geprägt ist, sollten wir verstehen, wie Geschichten entstehen und verbreitet werden. Dabei spielen Auseinandersetzungen, Verhandlungen und Kämpfe um die richtige Vision für die Zukunft eine große Rolle.

Ich möchte das am Beispiel der Geschichten, die vor ca. 25 Jahren über E-Learning erzählt wurden aufzeigen. Damals ging es wie auch heute darum, Visionen zu verbreiten, wie Technologien die Hochschulen und die Lehre in der Zukunft verändern werden.

Doch zunächst noch ein paar Worte zur Methode. Maßgeblichen Einfluss hatte die aus Indien stammende Wissenschaftlerin Sheila Jasanoff. Sie etablierte die Forschungsrichtung der Science and Technology Studies als eigenständiges akademisches Feld. Dabei geht es um das Verständnis der komplexen Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft. Neben Imaginaries, das wir uns gleich genauer anschauen werden, hat sie den Begriff der Koproduktion geprägt und untersucht wie Wissenschaft und soziale Ordnung gemeinsam produziert werden.

Nun aber zur Definition von Imaginaries.

Für Jasanoff lassen sich darunter verstehen: „(…) kollektiv getragene, institutionell stabilisierte und öffentlich ausgeführte Visionen von wünschenswerten Zukünften, die von gemeinsamen Vorstellungen über Formen des sozialen Lebens und der sozialen Ordnung beseelt sind, die durch den Fortschritt in Wissenschaft und Technologie erreicht werden können und diesen unterstützen.“ [4]

Schauen wir uns diese auf den ersten Blick vielleicht kompliziert wirkende Definition etwas genauer an. Zunächst wird festgehalten, dass die Zukunftsvorstellungen von einer Gruppe getragen werden müssen, sie unterscheiden sich also von persönlichen Meinungen einzelner Menschen. Allerdings ist es möglich, dass aus den visionären Vorstellungen von Individuen Imaginaries entstehen, man denke nur an Personen wie Steve Jobs und das iPhone oder Elon Musk und den Tesla. Auch müssen Imaginaries öffentlich sein, d.h. von der Politik unterstützt und durch die Medien verbreitet. Stabilität bekommen Imaginaries dadurch, dass sie institutionalisiert werden, etwa im Fall des E-Learning-Imaginary, auf das ich gleich noch genauer eingehe, die Einrichtung von Mediendidaktik-Lehrstühlen oder E-Learning-Einrichtungen an Hochschulen. Diese trugen auch dazu bei, E-Learning zu professionalisieren.

Das Bild wurde mit der Hilfe von DALL-E, einem KI-Bildgenerator von OpenAI, erstellt. Es illustriert die Definition von sozio-technischen Imaginaries und zeigt eine vielfältige Gruppe von Menschen, die in einer futuristischen Stadtlandschaft zusammenarbeiten, welche fortschrittliche Technologien und innovative Architektur darstellt.
Erstellungsdatum: 31. Mai 2024

Imaginäre Vorstellungen lassen sich am besten als historisch verwurzelte, kollektive, normative Träume von etwas „Besserem“ beschreiben. Es sind Überzeugungen, die die Politik prägen und die soziale Ordnung beeinflussen. Imaginäre Vorstellungen können daher als eine Kulturtechnik zur Herstellung und Aufrechterhaltung von Realität verstanden werden [5]. Oder anders gesagt: die Vorstellungskraft (Imaginary) wird als „ein organisiertes Feld sozialer Praktiken“ betrachtet und dient als Schlüsselelement für die Herstellung sozialer Ordnung. Indem wir uns die Zukunft vorstellen, können wir sie auch beeinflussen.

Das Imaginäre kann mit einem Scheinwerfer verglichen werden, der auf bestimmte Merkmale von Bildungsakteuren und -institutionen gerichtet ist. Man könnte sogar sagen, dass das grelle Licht dieses Scheinwerfers dazu dient, diese bevorzugten Merkmale zu verzerren, anstatt sie zu beleuchten.

Das Bild wurde mit der Hilfe von DALL-E, einem KI-Bildgenerator von OpenAI, erstellt. Es illustriert die Metapher des Imaginären als einen Scheinwerfer, der auf bestimmte Merkmale von Bildungsakteuren und -institutionen gerichtet ist, wobei das grelle Licht diese Merkmale verzerrt, anstatt sie zu beleuchten.
Erstellungsdatum: 31. Mai 2024

Dabei gibt es jedoch nicht das eine Imaginary, sondern sie stehen miteinander in ständiger hegemonialer Auseinandersetzung um Deutungshoheit. Ein kleines, anekdotisches Beispiel soll das illustrieren. Das Hochschulforum Digitalisierung präsentierte 2022 ein Papier mit 95 [sic] Thesen zur Hochschullehre 2025 [6].

Was leistet das Konzept „Imaginaries“? Es hilft zu verstehen, wie sich die Verbreitung und die Nutzung digitaler Technologien in Gesellschaft und Hochschule entwickelte vor dem Hintergrund der Analyse von Erzählungen und Überzeugungen. Diejenigen Technologien setzen sich durch, die am besten durch eine bestehende Erzählung unterstützt werden. Imaginaries sind also sowohl eine Idee von einer wünschenswerten Zukunft als auch der Weg, diese Zukunft zu erreichen. Imaginaries ermöglichen es, Fragen nach Veränderung und Beharrung zu stellen.

Im nächsten Abschnitt werde ich auf ein besonderes Imaginary eingehen, das ich bei meinem beruflichen Einstieg 2001 kennenlernen durfte: Das E-Learning-Imaginary.

3) Das E-Learning-Imaginary

Das E-Learning-Imaginary lässt sich anhand der weiter oben eingeführten allgemeinen Definition von Jasanoff und Kim als eine Vision zur Zukunft der Hochschule verstehen, die sich durch einen verstärkten Einsatz von Bildungstechnologien in der Lehre für den Wissens- und Kompetenzzuwachs auszeichnete.

Im Kern ging es um das zeit- und ortsunabhängige Lernen (anytime, anyplace), das flexiblere Bedingungen für Studierende schaffen sollte. E-Learning war in den Augen vieler Menschen zeitgemäß für eine Gesellschaft, die sich im Wandel von der Industrie hin zur Information befand.

Es bestand jedoch auch Konsens darüber, dass die Präsenzlehre durch E-Learning lediglich angereichert, aber nicht ersetzt werden sollte. Die Vorstellung war somit durch einen Dualismus geprägt: das Studium findet in den Mauern der Hochschule zu vorab festgelegten Zeiten statt, während man in das Internet ging, um die virtuelle Welt zu betreten.

Das E-Learning-Imaginary wurden von vielen Akteuren aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft geteilt. Eine tragende Rolle spielten wie bei jedem sozio-technischen Imaginary Technologien und Wissenschaft. Aber auch pädagogische Vorstellungen waren wichtig sowie Organisation und Professionalisierung. Ich werden nun einzelnen auf die Elemente eingehen, die zusammen das E-Learning-Imaginary ausmachten.

Für die Unternehmen war E-Learning mit der Aussicht auf Skalierung und damit Kostensenkung verbunden, etwa dadurch dass Schulungen über den Computer als Webinar oder sog. „Klick-Tunnel“ [7] umgesetzt werden konnten. Auch bestand eine sehr attraktive Aussicht auf einen Neuen Markt, denn E-Learning konnte, einmal produziert, kostengünstig vertrieben werden. Der deutsche Hochschulbereich kam dafür jedoch nicht so sehr in Frage, da zu klein und noch zu sehr im analogen Denken verhaftet.

Für die Politik war das E-Learning-Imaginary attraktiv, da es Veränderungen für den angestaubten Lehrbetrieb der Hochschulen versprach. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung förderte im Programm „Neue Medien in der Bildung“ 100 Verbundprojekte mit einem Volumen von 200 Mio. € [8].

Was machte das E-Learning-Imaginary so besonders?

Es bestand ein Primat der Pädagogik, d.h. lernpsychologisch-didaktische Überlegungen bildeten die Leitplanken für den Einsatz von E-Learning in der Hochschullehre. Als einflussreich erwies sich die Didaktik bzw. Mediendidaktik, die wissenschaftlich fundiert (insbesondere aus der Lernpsychologie) praktische Empfehlungen zur Gestaltung von Lernumgebungen gab. In Deutschland gab es zudem immer wieder Versuche, die aus den USA stammende Disziplin Instructional Design auch in den Hochschulen (Lehrstühle, E-Learning-Zentren) zu etablieren, um die Wissenschaftlichkeit von E-Learning zu stärken.

Gleichzeitig bedeutete die pädagogische Ausrichtung des E-Learning auch, dass oft eher simple didaktische Modelle eingesetzt wurden, die etwa auf Drill-and-Practice setzen. Das lag daran, dass solche E-Learning-Anwendungen leichter zu bauen waren als solche, die auf komplexere kognitive Prozesse abzielten. Auch hatten es anspruchsvolle offene E-Learning Angebote wie die Massive Open Online Courses, die sich an der Idee des Konnektivismus [9] orientieren schwer in der öffentlichen Wahrnehmung und spielten nur in den Zirkeln der „Nerds“ eine Rolle.

Die Idee, wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung unmittelbar für E-Learning nutzen zu können, verschaffte dem Imaginary eine Legitimation. Allerdings fehlte es an Hochschulen grundsätzlich an einer Transferstelle zur organisatorischen Verarbeitung, die z.B. zu strukturellen Reformen der Lehre führen könnte.

Mit dem zwischen 2000 und 2010 vorgegeben mediendidaktischen Hochschulpreis „MeDiDa-Prix“ wurde ein Forum für die öffentliche Aufführung des E-Learning-Imaginary geschaffen.

Die pädagogischen Leitvorstellungen konnten sich auch deshalb etablieren, da von großen technologischen Entwicklungen ausgegangen wurde. Weiter oben bin ich bereits kurz auf „Web 2.0“ eingegangen und habe aufgezeigt, wie sich diese Fortschrittserzählung auf viele gesellschaftlichen Bereiche ausbreiten konnte. Netzwerke bzw. das Netz der Netze (Internet) war ein unerfüllter Traum des nun aufkommenden digitalen Zeitalters [10] und der Haupttreiber für sozialen, wirtschaftlichen und ökonomischen Wandel.

Eine Bildungstechnologie war es dann, die wie kaum eine andere für das E-Learning ab den 2000er-Jahren stand: Learning Management Systeme (LMS). LMS war ein Allheilmittel, das mehr Interaktivität versprach. Viele bisher vertreut vorhandene Anwendungen wie Foren wurden unter dem LMS-Dach vereint und machten es zu einem Standard. Dazu gehörte auch, dass LMS für Stabilität standen und es dadurch schafften, dass Lehrkonzepte weiterverwendet wurden. Die Basisinfrastruktur veränderte sich nicht mehr, was zuvor eine Abschreckung für Lehrende war, mussten sie doch ihre Materialien öfter an veränderte Software anpassen.

Das Versprechen der LMS, Lernprozesse zu steuern oder zu kontrollieren widersprach zwar dem Selbstverständnis der Hochschulen, allerdings ist im Zusammenhang mit der Bologna-Reform ein Wechsel zu stärkerer Struktur des Studiums ausgelöst worden, der sich positiv auf die Akzeptanz von LMS auswirkte.

Neben der Technologie ist es die Wissenschaft, die ein Imaginary im Kern ausmacht, verspricht sie doch durch ihre kontinuierlichen Fortschritte bessere Bedingungen für unser Zusammenleben. Für das E-Learning-Imaginary war es dann die Lern- und Kognitionspsychologie, die mit ihren Erkenntnissen wichtige Beiträge leistete. So beschrieben etwa die Cognitive Load Theory oder die Kognitive Theorie des multimedialen Lernens detailliert Prozesse, die bei der Auswahl, Organisation und Integration von multimedialen Informationen ablaufen. Durch die eingängigen Beschreibungen lassen sich direkt Ableitungen für das E-Learning-Design machen.

In der Forschung wurde gerne auf (quasi-)experimentelle Methoden zurückgegriffen. Diese Anlehnung an das naturwissenschaftliche Paradigma sollte für mehr Legitimation sorgen. So kamen beispielsweise sog. Eye-Tracking-Labore zum Einsatz und sollten die Black-Box der kognitiven Prozesse öffnen [11]. Mittlerweile hat sich eine gewisse Sättigung eingestellt und viele Phänomene des Lernens mit E-Learning sind gut erforscht. Zu Beginn der 2000er-Jahre waren die damals neuen Erkenntnisse ein wichtiger Stabilisator für das E-Learning-Imaginary.

Schließlich waren es Maßnahmen der Professionalisierung wie die oben beschriebene Einrichtung von Lehrstühlen, die sich mehr oder weniger explizit mit E-Learning beschäftigten, die bei der Verbreitung der Vision halfen. Ich habe während meiner Zeit im E-Learning-Projekt „medin“ das Arbeiten in multidisziplinären Teams kennen und schätzen gelernt. Das gegenseitige Lernen von Menschen aus der IT, den Fachdisziplinen und der (Medien-)Didaktik war und ist für E-Learning charakteristisch. Allerdings waren damals die technischen Anforderungen gegenüber heute deutlich geringer und konnten auch von Nicht-ITlern wie mir gut bewältigt werden. Heute stellen uns die Large Language Modelle vor ganz neue Herausforderungen, denn wer kann schon verstehen, was da im Inneren vor sich geht und welche Auswirkungen das auf die Hochschullehre hat?

Das hier angesprochene Thema Weiterbildung begleitete das E-Learning-Imaginary ebenfalls seit den 2000er-Jahren. Neben den Angeboten von Seiten der Hochschulen, die allerdings häufig nur vom Mittelbau in Anspruch genommen wurden, ist „e-teaching.org“ zu nennen, ein Angebot, die im Zusammenhang mit der Gründung des Instituts für Wissensmedien (IWM) in Tübingen 2003 online ging.

Eine weitere wichtige Maßnahme sowohl für die Professionalisierung als auch die öffentliche Aufführung der Vision, waren Publikationen wie das Kompendium E-Learning [12].

4) Was wir vom E-Learning-Imaginary lernen können

Das gerade beschriebene E-Learning-Imaginary hat sich ab den 2000er-Jahren herausgebildet und bestand bis Mitte der 2010-er-Jahre, bis die große Welle der Digitalisierung es ins Wanken brachte. Die einzelnen Komponenten, die bis dahin ausbalanciert waren und sich gegenseitig stärkten, wurden aufgebrochen und eine neue Konstellation kristallisierte sich heraus.

Imaginaries funktionieren, wie oben beschrieben, als Scheinwerfer, der auf bestimmte Aspekte einer Vision fokussiert (z.B. Wissenschaftlichkeit, technischer Fortschritt). Dabei bleiben logischerweise andere Aspekte im Schatten und ausgeblendet.

Das betrifft etwa die fehlende Nachhaltigkeit, dadurch dass E-Learning hauptsächlich projektförmig in den Anfangsjahren durchgeführt, wofür es umfangreiche Förderung von Bund und Ländern gab. Inhalte und Medien wurden aufwendig produziert und in Pilotvorhaben erprobt. Nach Ende der Förderung wurde das E-Learning-Projekt nicht weitergeführt, denn dafür fehlten die entsprechenden Rahmenbedingungen an den Hochschulen, um mit E-Learning Fragen der Organisations- und Personalentwicklung zu bearbeiten [13].

Auch die Nachnutzbarkeit der Multimedia-Materialien war oft nicht möglich. Die Bewegung Open Educational Resources (OER), die sich zum Ziel gesetzt hat, Inhalte frei lizenziert von den Beschränkungen der analogen Welt zu befreien, entstand zwar 2001, spielte an deutschen Hochschulen bis Mitte der 2010er-Jahre aber keine Rolle.

Ein dritter Punkt, den ich hier exemplarisch nennen möchte, ist Web-Lernen. Gemeint sind Lernformen, die mehr auf das Potenzial des offenen weltweiten Netzes (Internet) eingehen und die Strukturen der klassischen Hochschullehre zu überwinden versuchen. So sind etwa die sehr populären Learning-Management-Systeme der Versuch, Strukturen der analogen Lehre möglichst unverändert in den digitalen Raum zu übertragen. Während wir für viele Bereiche des täglichen Lebens wie selbstverständlich im Internet recherchieren und neue Möglichkeiten in Anspruch nehmen, wurde das E-Learning an den Hochschulen domestiziert und in LMS eingesperrt.

Im Rückblick und im Angesicht des gerade entstehenden KI-Imaginary, was wiederum eine Weiterentwicklung des Digitalisierungs-Imaginary ist, können wir mitnehmen:

  • E-Learning konnte sich im Zeitraum von ca. 2000 bis 2015 als Konzept etablieren, weil es für eine Vision der Zukunft der Hochschullehre stand (anytime, anyplace). Diese Vision antworte auf die Erwartungen der Politik und der Wirtschaft nach Veränderungen und führte dazu, dass sich die Hochschulen für Bildungstechnologien öffneten und bereit für Lehr- und Lern-Experimente waren.
  • Tatsächlich waren dann viele E-Learning-Anwendungen nicht so visionär und überführten bisherige Lehr- und Lernformen in den digitalen Raum und ließen Potenziale des Web ungenutzt.
  • Das lag daran, dass gleichzeitig ein Imaginary bestand, das auf Präsenzlehre ausgerichtet war und verhinderte, dass es zu umfangreicheren Strukturreformen kam, die notwendig wären, damit sich E-Learning in der Breite etabliert. Genau diese Punkte sind es auch, die wichtig sind für neue Visionen zur Zukunft der Hochschullehre. Es geht im Kern um das Spannungsfeld zwischen mehr oder weniger realistischen Erwartungen in Bezug auf technische Innovationen und der Bereitschaft der Hochschulen zu tatsächlichen Veränderungen.

Literatur

[1] J. P. Barlow, „A declaration of the independence of Cyberspace“. 1996. [Online]. Verfügbar unter: https://projects.eff.org/~barlow/Declaration-Final.html

[2] N. Negroponte, Being digital, 1. Vintage Books ed. New York, NY: Vintage Books, 1996.

[3] E. Morozov, „The Meme Hustler. Tim O’Reilly’s crazy talk“, The Baffler. 2013 [Online]. Verfügbar unter: https://thebaffler.com/salvos/the-meme-hustler

[4] S. Jasanoff und S.-H. Kim, Hrsg., Dreamscapes of modernity: Sociotechnical imaginaries and the fabrication of power. Chicago ; London: The University of Chicago Press, 2015.

[5] B. Hof, „Defuturization Machines: The OECD’s Early Efforts to Plan the Computerized Future of Education“, in How Computers Entered the Classroom, 1960–2000, C. Flury und M. Geiss, Hrsg., De Gruyter, 2023, S. 217–238. doi: 10.1515/9783110780147-010.

[6] Hochschulforum Digitalisierung, „Thesen zur Hochschullehre 2025“. [Online]. Verfügbar unter: https://hochschulforumdigitalisierung.de/sites/default/files/dateien/HFDcon_2022_Thesenpapier.pdf

[7] W. Prüher, „e-Learning: Angst fressen Weiterbildung auf?“, LernenHeute. [Online]. Verfügbar unter: https://lernenheute.wordpress.com/2009/12/14/e-learning-angst-fressen-weiterbildung-auf/

[8] DLR-Projektträger -, Neue Medien in der Bildung + Fachinformation, und Deutschland, Hrsg., Kursbuch eLearning 2004: Neue Medien in der Bildung – Hochschulen. Produkte aus dem Förderprogramm. in BMBF publik. Ludwigsfelde: Pädagogisches Landesinstitut Brandenburg, 2004.

[9] G. Siemens, „Connectivism: A Learning Theory for the Digital Age“, International Journal of Instructional Technology and Distance Learning, Bd. 2, Nr. 1, 2005.

[10] P. Bory, The Internet Myth: From the Internet Imaginary to Network Ideologies. Westminster: University of Westminster Press, 2020. doi: 10.16997/book48.

[11] G. Rakoczi, „Eye Tracking in Forschung und Lehre. Möglichkeiten und Grenzen eines vielversprechenden Erkenntnismittels“, in Digitale Medien – Werkzeuge für exzellente Forschung und Lehre, Bd. Medien in der Wissenschaft, Nr. 61, G. Csanyi, F. Reichl, und A. Steiner, Hrsg., Münster: Waxmann, 2012, S. 87–98. doi: 10.25656/01:8301.

[12] K. Aslanski, M. Deimann, S. Hessel, D. Hochscheid-Mauel, G. Kreuzberger, und H. Niegemann, Kompendium E-Learning. Heidelberg: Springer, 2003.

[13] M. Kerres, „Strategieentwicklung für die nachhaltige Implementation neuer Medien in der Hochschule“, in Handbuch Organisationsentwicklung: Neue Medien in der Lehre – Dimensionen, Instrumente, Positionen, T. Pfeffer, A. Sindler, A. Pellert, und M. Kopp, Hrsg., Münster: Waxmann, 2005, S. 147–162.


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