Am Freitag folgte ich der Einladung von Gabi Reinmann zum Besuch im HUL-Forschungskolloquium nach Hamburg. Hintergrund war meine Antrittsvorlesung an der FernUniversität in Hagen, über die ich schon hier geschrieben habe. Mit Gabi haben wir verabredet, dass ich den Vortrag kein zweites Mal halten werde, sondern dass wir die Kenntnis „voraussetzen“ (dafür gab es ja das Video und das Manuskript).
Wir hatten im Nachgang auch verabredet, dass wir darüber bloggen und die Debatte dadurch weiterführen. Gabi hat dazu gestern schon vorgelegt. Ich lege hiermit nach, werde mich aber nicht an Gabis Post abarbeiten, sondern zunächst meine Sicht darlegen. Im nächsten Schritt könnten wir dann daran gehen, die Posts (es kommen hoffentlich noch welche von anderen Teilnehmenden) zu synthetisieren.
Beginnen wir mit folgender These, die ich zum Input und Start der Diskussion formulierte: Ohne ein fundiertes Bildungsverständnis und einen reflektierten Bildungsbegriff lässt sich „digitale Bildung“ nicht verstehen. Umgekehrt bleibt ein Bildungsbegriff, der nicht auf die Signaturen der Digitalität eingeht, defizitär.
Bei den Signaturen beziehe ich mich auf Felix Stalder, der in seinem Buch „Kultur der Digitalität“ von Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität spricht. Kurz habe ich auch noch auf Jean Baudrillard verwiesen, der in seiner Medientheorie drei Ordnungen von Simulakren (ein System von Zeichen, die in einem bestimmten, abstrakten Verhältnis zur Welt stehen) unterscheidet: Imitation, Produktion und Simulation. 
In den folgenden 2,5h debattierten wir damit in Verbindung stehende Aspekte, die ich nur auschnittsweise, so wie ich sie verstanden habe, darstellen und erläutern kann. Gespannt bin ich darum auf andere Perspektive, Widersprüche, Ergänzungen etc., die in den Kommentaren oder in anderen Posts entstehen.
Es gibt ein Spannungsfeld zwischen der Digitalisierung (verstanden als gesellschaftliche Tranformation bzw. Reorganisation grundlegender Strukturbedingungen vor dem Hintergrund des zunehmenden Einsatzes und der Integration digitaler Technologien und deren Verschmelzen zu Großprojekten wie „Arbeit 4.0“) und den grundlegenden Prinzipien von Bildung, die mit Autonomie, Selbstbestimmung und Emanzipation umrissen werden können. Digitalisierung, so wie es aktuell diskutiert wird, d.h. als sozio-technologisches „Mega-Projekt“ wird von einer kleinen Gruppe von Akteur/innen bestimmt, die meist in einer bestimmten Region in Kalifornien sitzen. Die so verbreitete Kalifornische Ideologie (siehe dazu meinen Vortrag zu „Bildung 4.0“) ist so mächtig, dass wir uns in die Rolle von dankbaren Empfänger/innen der neuesten technologischen Entwicklungen drängen lassen. Wir sind dann mehr Kunden oder „User“ als selbstbestimmte Individuen. Das war auch einmal anders, ist aber heute in Vergessenheit geraten. Das Web war ursprünglich als offene Infrastruktur konzipiert, die einer cyberutopistischen Philosophie folgte, bevor es zum kommerzialisierten Netz wurde, das durch Likes, Shares und Followers bestimmt ist.
Was hier außerdem fehlt ist eine fundamentale Kategorie von Bildung: Reflexion. Innehalten und nachdenken, was da gerade passiert. Das Nachdenken kann durch ein fundiertes Bildungsverständnis befördert werden, wo es z.B. auch um anthropologische und ethische Fragen geht: Was ist der Mensch in der Digitalität und was macht die Digitalisierung mit unserer Gesellschaft? Bildung(stheorie) kann uns dabei helfen, darauf Antworten zu finden. Moderne Bildungstheorien (Marotzki, Koller) gehen auch von gesellschaftlichen Transformationsprozessen aus, die durch Unsicherheit und Kontingenz charakterisiert sind. Bildung wird darauf hin verstanden als produktiver Umgang mit diesen Unsicherheiten. Dies ist ein lebenslanger Prozess (nicht zu verwechseln mit dem Imperativ des „lebenslangen Lernens“). Bei beiden Ansätzen spielt die Digitalisierung allerdings keine Rolle, da sie vor mehr als einem Jahrzehnt entwickelt wurden. Die Bildungstheorie hat hier also noch Nachholbedarf.
Was es dazu braucht ist ein tieferes Verständnis von Digitalisierung, das jenseits von Erlösungs- und Untergangsphantasmen liegt. Die Lernbereitschaft der Bildungswissenschaft ist durchaus gegeben, so wie durch die Tagung „Universität 4.0“ nächste Woche angezeigt. Ich denke es ist mittlerweile Zeit für bildungstheoretische Reflexionen über Digitalisierung. Das Kolloquium ermutigte mich daran weiter mitzuarbeiten.
 

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