Das Georg-Eckert-Institut für Schulbuchforschung hat mich für einen Vortrag zum Thema Open Educational Resources (OER) aus bildungsphilosophischer Sicht eingeladen.
Hier mein Abstract:
Seit mehr als einer Dekade sind Open Educational Resources (OER) ein globales Bildungsphänomen, das mit dem universalistischen Anspruch „Bildung für alle“ für eine bessere Gesellschaft, eine prosperierende Wirtschaft und eine offene Kultur eintritt. Im Kern geht es bei OER, so die Pariser Erklärung der UNESCO vom Juni 2012, um „Lehr-, Lern- und Forschungsressourcen in Form jeden Mediums, digital oder anderweitig, die gemeinfrei sind oder unter einer offenen Lizenz veröffentlicht wurden, welche den kostenlosen Zugang, sowie die kostenlose Nutzung, Bearbeitung und Weiterverbreitung durch Andere ohne oder mit geringfügigen Einschränkungen erlaubt. Das Prinzip der offenen Lizenzierung bewegt sich innerhalb des bestehenden Rahmens des Urheberrechts, wie er durch einschlägige internationale Abkommen festgelegt ist, und respektiert die Urheberschaft an einem Werk.“ Die Idee, hochwertige digitale Inhalte frei über das Internet anzubieten wurde im April 2001 vom Massachusetts Institut of Technology (MIT) geboren und praktisch in die Tat umgesetzt (MIT OpenCourseWare). Was als Utopie des Cyberspace begann – so wie beispielsweise in der Unabhängigkeitserklärung von Barlow 1996 formuliert, wird nun als Heterotopie, als real existierender Gegenort weitergeführt.
Um die Besonderheit von OER als digitale Heterotopie erkennen und einschätzen zu können, wird im Vortrag zunächst ein bipolares Analyseraster „Utopie-Dystopie“ eingeführt und anhand klassischer Utopien (Platons Politeia) und Dystopien (Orwells „1984“) deren Besonderheiten vorgestellt. Ein charakteristisches Merkmal, das beiden Beschreibungsfiguren gemeinsam ist, ist das geschlossene System, innerhalb dessen Wunschvorstellungen artikuliert werden. Auf der anderen Seite reflektieren Dystopien vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen die Fehlentwicklungen von Utopien. Mit dem Begriff der Heterotopie, der von Foucault im Rahmen eines Radiovortrag entwickelt wurde, kommt ein neues Merkmal hinzu. Damit gemeint sind „Gegenräume“ bzw. „lokalisierte Utopien“ wie Friedhöfe, Bordelle oder Gefängnisse, die entgegen der üblichen gesellschaftlichen Normen und Werte funktionieren. Auch das Altenheim, bzw. die Seniorenresidenz ist eine Heterotopie, da hier die kapitalistische Leistungsgesellschaft ausgehebelt wird.
Im Digitalbereich war bis zur „Geburt“ von OER Produktion, Distribution und Konsumtion von Inhalten aller Art (Musik, Videos, Zeitungen) zahlungspflichtig und damit reguliert. Mit OER kommt die völlig utopische Idee hinzu, digitale Artefakte nicht nur umsonst, sondern – und das ist das Alleinstellungsmerkmal, auch nach eigenen Vorstellungen frei veränderbar zur Verfügung zu stellen. Mit der Wikipedia oder der Plattform Wikieducator finden sich nun solche Inhalte, sodass hier tatsächlich von einer Heterotopie gesprochen werden kann. Durch die liberale Lizenzierung, z.B. mittels CreativeCommons, werden umfassende Nutzungs- und Weiterverwertungsrechte eingeräumt, zum Teil gekoppelt an die Pflicht, die veränderten OERs unter gleicher Lizenz oder nur nichtkommerziell anzubieten. Somit ist sichergestellt, dass der Gegenort OER erhalten bleibt und wächst. Historische Beispiele lehren uns jedoch, dass Heterotopien vergänglich sein können, wenn sich gesellschaftliche Vorstellungen und Politiken ändern. Was bedeutet das für OER? Aktuell ist nicht von einem baldigen Verschwinden auszugehen, da einflussreiche AkteuerInnen wie die EU am Ausbau von OER arbeiten, wie z.B. im Rahmen der Opening Up Education Initiative („Die Bildung öffnen: Innovatives Lehren und Lernen für alle mithilfe neuer Technologien und frei zugänglicher Lehr- und Lernmaterialien“).
Auf der anderen Seite lassen sich im Anschluss an historische Dystopien auch kritische Aspekte von OER aufführen. So kann die radikale (Selbst-)Verpflichtung zur freien Weitergabe von Inhalten zu einem „Offenheitsregime“ führen, dass Alternativen zu OER, wie etwa das klassische Copyright-Prinzip, ausgrenzt. Auch die Forderung, dass OER nur mit einer Veränderung des lehrerInnen-dominierten Unterrichtsmodells ihre vollen Potentiale entfalten können, ist kritisch zu diskutieren. Es könnte hier, ähnlich dem von Horkheimer und Adorno beschriebenen dialektischen Prozess der Aufklärung, zu einer Instrumentalisierung des pädagogischen Prinzips Offenheit, hier verstanden als lernerInnen-zentriert, kommen. Im Zeitalter des Neoliberalismus verschwinden außerdem genuin pädagogische Ziele (Ausweitung des Zugangs zu höherer Bildung) hinter der Forderung, mit OER sein „Humankapital“ immer „up to date“ zu halten, um damit den Anforderungen der kapitalistischen Leistungsgesellschaft gerecht zu werden.
Mit dem Aufkommen der Massive Open Online Courses (MOOCs), die als konnektivistische (cMOOCs) oder Massenkurse (xMOOCs) seit 2008/2012 für viel mediale Berichterstattung und bildungspolitische Initiativen sorgten, bekommt die OER-Debatte eine weitere Dimension. Openness wird dabei als ein neues Leitmotiv, in allerdings höchst unterschiedlicher Bedeutung, auserkoren. Die cMOOCs verstehen Openness als ein Imperativ, d.h. jeder, der OER nutzt und damit arbeitet, muss die Ergebnisse seiner Arbeit auch wieder als OER zur Verfügung stellen. Dagegen kennen viele xMOOCs gar keine OER und verstehen Openness daher auch nur als Marketingstrategie zur Attraktion von extrem großen Gruppen.
Der Vortrag endet mit einer Gegenüberstellung utopischer, dystopischer und heterotopischer Merkmale von Open Educational Resources.